Mehrere hundert Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben sich Mitte September in Halle zur Botanik-Tagung 2024 getroffen. Im Interview spricht Tagungs-Präsident Edgar Peiter von der Universität Halle über die Themenpalette, das sechste Artensterben sowie den Forschungsstandort Mitteldeutschland.
Die Tagung ist geschafft. Und Sie als Tagungs-Präsident nach sechs Tagen mit zahlreichen Vorträgen, Diskussionen, Postern und Exkursionen vermutlich auch, oder?
Nach zwei Jahren Vorbereitung war ich im Vorfeld schon ein wenig angespannt. Die Tagung selbst erlebt man als Hauptverantwortlicher dann in Wellen, wie eine Achterbahnfahrt. Auf der einen Seite eine große Euphorie, auf der anderen Seite laufen eben alle Probleme direkt auf einen zu - von kurzfristigen Absagen bis hin zu Problemen bei der Essensversorgung. Und klar, ich war morgens bei den Ersten und abends meist der Letzte. Ich hätte mir gerne den einen oder anderen Vortrag mehr angehört, aber das ging einfach nicht. Das ist ein Stück wie bei der eigenen Hochzeit, von der man auch nicht so viel mitbekommt. Unter dem Strich bin ich aber sehr zufrieden, es war wirklich eine wirklich gelungene und erfolgreiche Tagung.
Wie viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben Sie letztlich nach Halle locken können? Und was für Rückmeldungen haben Sie erhalten?
Wir hatten 650 Anmeldungen für die Tagung, bei der es insgesamt 135 Vorträge gab und rund 400 Poster gezeigt wurden. Die Resonanz auf unser Programm war außerordentlich positiv. Auch die Lokalität - alle Veranstaltungen fanden in den Gebäuden am Uni-Platz in Halle statt - ist sehr gut angekommen. Doch nicht nur das: Wir haben zudem viel positive Rückmeldung zur Stadt Halle bekommen, was uns sehr freut.
Die Tagung hatte das Motto „Growing Solutions for Growing Challenges“. Die immensen Herausforderungen wie der Klimawandel und der Rückgang der Artenvielfalt sind vielen Menschen geläufig. Doch welche Lösungen kann die Wissenschaft anbieten?
Es geht um die Anpassung unserer Kulturpflanzen an den Klimawandel mit immer mehr extremen Wettersituationen. Es geht darum, die Effizienz der Pflanzen in der Nutzung von Ressourcen wie Nährstoffen oder Wasser zu erhöhen. Und es geht darum, auch künftig unsere Versorgungssicherheit zu erhalten - ohne dass dies auf Kosten der Biodiversität geschieht. Dazu müssen wir alle Mechanismen, die in unseren Kulturpflanzen ablaufen, besser verstehen. Wir bewegen uns bei den Herausforderungen - und damit auch den Lösungen - jedoch auf ganz unterschiedlichen Skalen - vom einzelnen Molekül bis zum komplexen Ökosystem.
Am Ende seines Vortrags hat Ihr Kollege Helge Bruelheide beklagt, dass seit Jahren bereits alle wesentlichen Fakten zum Thema Biodiversitäts-Verlust auf dem Tisch lägen, wir aber nicht zum Handeln kommen, sondern häufig nur Scheindebatten führen. Teilen Sie diese Einschätzung? Und woran liegt das?
Zunächst einmal der Befund. Wir sind nach meiner festen Überzeugung bereits mitten drin im sechsten, großen Massenaussterben. Hiervon spricht man, wenn 75 Prozent der Arten in einer geologisch kurzen Zeit unwiederbringlich verloren gehen. Die Probleme sind also offensichtlich, und gehen auch weit hinaus über das Thema Biodiversitätsverlust. Helge Bruelheide hat Recht, es passiert viel zu wenig.
Was die Ursachen angeht, so liegt das daran, dass Probleme, die von uns nicht unmittelbar wahrgenommen werden, oft hinten herunterfallen, obwohl sie existenziell sind. Es herrscht eine große Ignoranz, und das ist sehr gefährlich.
Muss die Wissenschaft vielleicht besser lernen, wie die politischen Entscheidungsprozesse funktionieren und sich dort noch stärker einbringen als nur zu sagen, die Fakten liegen alle auf dem Tisch?
Natürlich müssen und werden wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an diesen Themen dranbleiben. Es ist aber zuletzt nicht einfacher geworden. Das liegt auch daran, dass der Diskurs zunehmend vergiftet ist. Es wird oft nur sehr kurzfristig gedacht. Und wenn ich mir die letzten Wahlen anschaue, dann verstärkt sich dieser Eindruck. Ich formuliere es einmal so: Es dominieren zunehmend die beharrenden Kräfte und nicht Kräfte, die dringend nötige Veränderungen anschieben.
Schillernde Korallenriffe, tropische Regenwälder und blühende Alpenwiesen: das sind doch alles Punkte, die für viele Menschen positiv belegt sind. Ist das nicht der perfekte Hebel, um die dringend nötigen Veränderungen in Bewegung zu setzen und neben der Politik auch die Bürgerinnen und Bürger zu erreichen?
Nehmen wir die Alpenwiesen. Vermutlich begrüßt eine sehr große Mehrheit der Menschen einen Erhalt der Alpenwiesen. Das Problem aber ist, die Menschen sind nicht bereit, für den Erhalt persönliche Einschränkungen in Kauf zu nehmen. Genau das ist das Dilemma. Kürzlich gab es in der Schweiz eine Volksabstimmung über eine Biodiversitätsinitiative, die von mehr als 63 Prozent der Menschen abgelehnt worden ist. Das Problem ist, dass sich Biodiversität oft im Kleinen abspielt, also wenig sichtbar ist. Das ist anders als etwa vor einigen Jahren bei Kampagnen für den Schutz der Wale.
Welche Themen standen neben der Biodiversität im Mittelpunkt der Tagung?
Es war ja eine Veranstaltung der Deutschen Botanischen Gesellschaft, schon deshalb war die Themenpalette sehr breit, anders als bei einer reinen Fachtagung. Jede Sektion hatte eine eigene „Session“. Dann waren alle vier Organisatoren mit ihren Themen vertreten - also neben der Uni Halle mit dem IPK (Gatersleben) und dem IPB (Halle) zwei Leibniz-Institute sowie das iDiv (Halle-Leipzig-Jena). Sehr gut besucht und erfrischend war auch die Session unseres Graduiertenkollegs, das sich mit pflanzlichen Organellen beschäftigt. Und die Themen bei den acht Plenarvorträgen reichten beispielsweise von den Regulationsnetzwerken zur Bildung von Schließzellen bei Blättern, die wichtig sind für den Wasserverbrauch und die Aufnahme von CO2, bis hin zum Effekt von CO2 auf ganze Ökosysteme.
Welche Vorträge bzw. welche Referentinnen und Referenten haben Sie ganz persönlich am meisten beeindruckt und interessiert?
Obwohl alle Vorträge, die ich verfolgt habe, hervorragend waren, möchte ich zwei persönlich herausheben: den Eröffnungsvortrag von Giles Oldroyd und den Plenar-Vortrag von Bipin Pandey. Giles Oldroyd hat beschrieben, wie sich Pflanzen unter Nährstoffmangel verhalten. Sie fahren ihre etablierten Abwehrmechanismen herunter, öffnen sich gewissermaßen für die Interaktion mit symbiontischen Pilzen zur Nährstoffaufnahme. Damit gehen sie aber ein größeres Risiko ein, von Pathogenen befallen zu werden. Das grundlegende Wissen zur Regulation dieser Symbiose überträgt er bereits in die Verbesserung der Nährstoffaufnahme von Kulturpflanzen.
Und Bipin Pandey hat erläutert, welche Mechanismen Wurzeln aktivieren, um in einem verdichteten Boden zu wachsen. Er ist ein vielversprechender Nachwuchswissenschaftler in Nottingham (UK) und hat seine Arbeiten wahrscheinlich noch nie in einem so großen Rahmen präsentiert.
In welcher Form war das IPK Leibniz-Institut als Mitorganisator in die Planung eingebunden und auf der Tagung selbst vertreten?
Nicolaus von Wirén war Mitglied in unserem Organisationskomitee und hat alleine deshalb schon deshalb die fachliche Ausrichtung der Tagung mitbestimmt. Hannah Schneider und Nils Stein haben zwei der „Sessions“ geleitet. Weitere Forscherinnen und Forscher waren zudem mit Postern in Halle vertreten. Und nicht zuletzt haben wir ja auch eine Exkursion nach Gatersleben im Programm gehabt, auf die es sehr viel positive Resonanz gab.
Fast derselbe Verbund, der die Tagung organisiert hat (Uni Leipzig statt iDiv) hat im Frühjahr 2024 die Nachricht bekommen, als Sonderforschungsbereich von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert zu werden. Etabliert sich Mitteldeutschland gerade als Zentrum für die Pflanzenforschung?
Die Region ist ja bereits seit langem ein Zentrum der Pflanzenforschung und der Züchtung, aber es stimmt: wir haben gerade eine gewisse Aufbruchstimmung, die auch in der Botanik-Tagung erkennbar war. Der neue Sonderforschungsbereich wird die Pflanzenforschung mit den Proteinwissenschaften zusammenbringen, mit einem Konzept, das auf genetischer Diversität fußt. Dadurch haben wir auch das Potential, die molekulare Pflanzenforschung und die Biodiversitätsforschung zusammenzuführen. Daneben haben wir auch den DiP-Verbund, bei dem es darum geht, aus dem südlichen Sachsen-Anhalt eine Modellregion für eine digitalisierte, klimaneutrale und wettbewerbsfähige Bioökonomie zu machen. Die aktuelle Dynamik sollten wir auf jeden Fall für den Forschungsstandort Mitteldeutschland nutzen.