„Comeback“ für alte Gersten
Ein Schaubild aus Berlin zeugt vom Aufschwung der Mutationsforschung in den 1950er Jahren, die auch in Halle (an der Saale) und Gatersleben intensiv betrieben wurde. Kürzlich ist es dem Institut übergeben worden und inspiriert Nils Stein dazu, sich die Mutanten mit neusten Methoden noch einmal genau anzuschauen.
Frisch eingerahmt können sie nun im Flur auf dem Weg zum Direktionszimmer des IPK bestaunt werden: 15 besonders auffällige Gersten-Mutanten, jeweils mit zwei oder drei Ähren vertreten. Eine kurzgrannige Mutante findet sich dort ebenso wie eine mehrzeilige und eine mit deformierten Ähren. Ausgangspflanze war die Sommergerste Heines Heisa.
Angefertigt wurde das Schaubbild des „Gersten-Mutationssortiments“, das für Lehrzwecke genutzt worden ist, Ende der 1950er / Anfang der 1960er Jahre in der Werkstatt des „Instituts für Vererbungs- und Züchtungsforschung“. „In dem Schaubild ist ein Dutzend der auffälligsten Mutationen aus dieser Zeit zusammengefasst“, erläutert Prof. Dr. Thomas Schmülling, Leiter der Arbeitsgruppe „Angewandte Genetik“ am Institut für Biologie der Freien Universität Berlin. „Heute sind die verantwortlichen Gene für die meisten dieser Mutanten bekannt und molekular beschrieben. Ein Durchbruch von dem die Forschenden damals nur träumen konnten“, erklärt Prof. Dr. Thorsten Schnurbusch, Leiter der Arbeitsgruppe „Pflanzliche Baupläne“ am IPK.
Sein Besuch und Vortrag am Institut in Berlin brachten Thorsten Schmülling auf die Idee, das Schaubild dem IPK zu übergeben. Das Institut beherbergt in seiner Genbank eine umfangreiche Kollektion von Gerstenmutanten. Dazu gehören auch die im Schaubild abgebildeten Mutanten mit stark veränderter Ährenarchitektur. Den Auftrag für die Erstellung des Schaubildes hatte Prof. Dr. Walther Hoffmann erteilt. Er leitete das Institut, damals noch Teil der Technischen Universität Berlin, von 1955 bis 1972. Walther Hoffmann gilt als Schlüsselfigur der deutschen Pflanzenzüchtung des 20. Jahrhunderts und als Pionier der Mutationszüchtung.
Er promovierte 1934 mit einer Arbeit über „Das Auswachsen des Getreides, speziell der Gerste“ an der Universität Heidelberg. Im Anschluss arbeitete er in der Abteilung für Gerstenzüchtung des Kaiser-Wilhelm-Institutes für Züchtungsforschung in Müncheberg, wurde 1936 Leiter der Abteilung für Faserpflanzenzüchtung und 1942 Abteilungsleiter für Landwirtschaft, Züchtung und Genetik. Ab 1946 arbeitete Walther Hoffmann am Versuchsfeld Hohenthurm des Instituts für Pflanzenzüchtung der Universität Halle und wurde dann 1949 Professor und Direktor des Instituts für Pflanzenforschung der Universität Halle.
Bereits seit den 1930er Jahren wurde an der Universität Halle einige Pionierarbeit zur induzierten Mutation bei Gerste geleistet. Rudolf Freisleben (ein späterer Kollege Walther Hoffmanns in Halle) gelang es 1942 erstmals, mittels Röntgenstrahlen eine Gerstenlinie zu erzeugen, die resistent gegen Mehltau - eine weitverbreitete Pilzkrankheit - war. Dafür bestrahlte er die Sommergerste Heines Haisa und isolierte die Mutanten, die gegen den sogenannten Echten Mehltau resistent waren. „Das war eines der ersten Experimente der Mutationszüchtung“, sagt Thomas Schmülling.
In den folgenden Jahren wurden viele weitere Mutanten in Gerste-Herkünften induziert. Es stellte sich dabei heraus, dass die Resistenz meist auf Mutationen in einem bestimmten Gen (später Mlo genannt) beruhte. 1951 wurde Heines Haisa offiziell als Sorte zugelassen. „Man bescheinigte ihr eine mittlere Leistung, aber bessere Ertragssicherheit als anspruchsvollere Sorten“, erklärt Thomas Schmülling.
Mit anderen Züchtungsforschern analysierte Walter Hoffmann in den 1950er Jahren aber auch Erectoides-Mutanten, Gersten mit aufrechten Ähren und verkürztem Halm. Solche Mutanten sind züchterisch wertvoll, weil sie standfester sind und höhere Erträge unter Düngung ermöglichen. Ohnehin begann in den 1950er Jahren der Aufschwung der Mutationsforschung - auch am Institut in Gatersleben.
„Die seit mehr als zehn Jahren in Gatersleben durchgeführten Mutationsversuche an Sommer- und Wintergerste ermöglichten den Aufbau eines umfangreichen Sortiments röntgeninduzierter Mutanten. Es umfasst zurzeit etwa 800 Formen“, heißt es 1958 im Instituts-Band „Die Kulturpflanze“. „Dieses Mutantenmaterial ist für Arbeiten auf den verschiedensten Gebieten hervorragend geeignet.“ In den frühen 1960er Jahren entstanden am Institut hunderte weiterer Gerste-Mutanten, die „Scholz-Kollektion“, benannt nach dem Forscher Fritz Scholz. International ist die Entwicklung eng verbunden mit dem Namen Udda Lundqvist, die in Schweden mehr als 10.000 Mutanten produzierte und selektierte.
Es gab aber zu der damaligen Zeit noch keinen Zugang zu DNA-Sequenzen, und die mutierten Gene konnten noch nicht isoliert werden. Das gelang Paul Schulze-Lefert und seinen Kollegen erst 1997. Sie isolierten das Mlo-Gen am Sainsbury Laboratory des John Innes Centre in Norwich, England. „Die entsprechende ‚Cell‘-Veröffentlichung ist bis heute ein echter Meilenstein“, sagte Thomas Schmülling. Bis heute sind mehr als 40 Allele des Gens bekannt, die alle zu einer weitreichenden Mehltauresistenz führen. Ab 1999 förderte dann auch das Bundesforschungsministerium in Deutschland gezielt die Genomforschung. Durch das GABI genannte Forschungsprogramm wurde es möglich, in den Mutanten die entscheidenden Gene zu identifizieren. GABI stand für ‚Genomanalyse im Biologischen System Pflanze‘ und war Schwesterprogramm des Forschungsprogramms HUGO. Dem internationalen ‚Human Genom Programm‘, zur Aufklärung des menschlichen Genoms, an dem auch deutsche Einrichtungen beteiligt waren.
Wo genau die Mutanten entstanden sind, die auf dem Schaubild zu sehen sind, ist bislang unklar. Werner Odenbach, ein früherer Professor im Institut für Angewandte Genetik, der Walther Hoffmann noch persönlich kannte, vermutet ihren Ursprung in dessen Zeit in Halle. „Ich glaube aber, dass einige der bekannten Mutanten wie erectoides und mlo von mehreren Forschern unabhängig voneinander isoliert wurden“, erklärt Thomas Schmülling. „Das wäre an sich nichts Ungewöhnliches.“ In jedem Fall lagern viele der historischen Mutanten in der Genbank des IPK.
Diese Sammlung Gaterslebener Gerste Mutanten, die „Scholz-Kollektion“, umfasst gegenwärtig noch ca. 700 Muster, die die IPK-Genbank erhält und über ihren elektronischen Katalog zur Abgabe anbietet. Die Nachfrage ist bislang jedoch gering, wenngleich verschiedene Mutanten in der jüngeren Vergangenheit durch IPK-Forscher zur Isolierung von Genen genutzt wurden. Der Grund könnte in der sprachlichen Barriere liegen. Für internationale Gerstenforscher ist dieser Schatz bisher weitestgehend unbekannt, denn die wesentliche beschreibende Wissenschaftsliteratur zu diesen Mutanten ist nur in deutscher Sprache veröffentlicht worden. Diese Hürde versucht Prof. Dr. Nils Stein, Leiter der Abteilung „Genbank“, mit seinem Mitarbeiter Srijan Jhingan zu überwinden.
In Absprache mit dem Fachmagazin „Genetic Resources and Crop Evolution“ (ehemals „Die Kulturpflanze“) sollen englische Übersetzungen einiger der grundlegenden Arbeiten, zusammen mit einem Übersichtsartikel, der die alten Arbeiten in den heutigen Kontext stellt, wiederveröffentlicht werden. Dies soll, unterstützt durch die Arbeitsgruppe „Experimentelle Taxonomie“ am IPK, mit der Bereitstellung digitalisierter Referenzmaterialien wie Herbarbögen und Ährenmuster der Mutantenkollektion verbunden werden.
Das Schaubild wiederum hat jetzt einen neuen Platz gefunden. „Bei uns hing es lange im Treppenhaus des Instituts für Angewandte Genetik, und wir haben es Anfang des Jahres - angesichts anstehender Umstrukturierungen - dem IPK übergeben“, sagt Thomas Schmülling. Überarbeitet und neu gerahmt hängt es nun im Gebäude der Abteilung Genetik am IPK. „Ich kannte zwar die Mutanten, aber nicht das Schaubild und freue mich, dass wir es jetzt hier haben. Mich fasziniert, mit welcher Begeisterung schon damals an Mutanten geforscht worden ist, Arbeiten, von denen wir bis heute profitieren“, so Prof. Dr. Thorsten Schnurbusch, der sich als Leiter der Arbeitsgruppe „Pflanzliche Baupläne“ seit Jahren sehr intensiv mit dem Blütenstand der Gerste beschäftigt.
Doch ein Rätsel ist noch nicht gelöst. „Walther Hoffmann hat ein ähnliches Schaubild zu Weizen-Mutationen in Auftrag gegeben, das allerdings ist bis heute verschollen“, so Thomas Schmülling.